Kuriose Kurzmeldungen
Die lustigsten und zeitlosesten Geschichten

Jede Kurier-Kolumne zwischen 1995 und 2006 enthielt eine aktuelle Meldung über die Schachwelt. Gesamt waren es also gut 500. Weiß Gott, aus welchen Quellen ich die stets ausgrub. Der besondere Reiz dabei war, bei minimalem Platz - mit gehörigem Augenzwinkern - eine möglichst humorvolle und inhaltsreiche Story zu erzählen.

Hier meine Top 10 (nach Datum geordnet):

 

Lebenslänglicher narrt US-Champions (1997)
Eine kuriose Geschichte amüsiert die USA: Hinter Vizeweltmeister Kamsky liegt ein „blutiger“ Laie an zweiter Stelle der amerikanischen Rangliste! Der 59jährige Claude Bloodgood, Insasse eines Gefängnisses in Virginia, hat sein Rating auf über 2700 Punkte geschraubt.
Der wegen Mordes an seiner Mutter zu lebenslanger Haft Verurteilte spielte zunächst Fernschach und schrieb ein Buch über die Eröffnung 1.g2-g4. Das Postprivileg wurde ihm gestrichen, als er einen Ausgang zu einem Turnier zur Flucht benutzte und wieder gefaßt wurde. Seitdem gewinnt er, ausschließlich gegen Mithäftlinge, abertausende Partien, die brav beim Verband zur Rating-Berechnung eingereicht werden. In den USA wird nun heftig über das US-Wertungssystem diskutiert.
Nach unserem ELO-System wäre so etwas nicht möglich. Leider.

 

Von Elefantengambit bis Orang-Utan (1997)
Wie lange braucht man, um sämtliche Möglichkeiten für die ersten zwei Züge auszuprobieren ?
Für den ersten Halbzug (nur Weiß) gibt es 20, für den ersten ganzen Zug (Weiß, Schwarz) 400 Möglichkeiten, für zwei Züge gar schon über 200.000!
Spielt man täglich zehn Partien (fleißig!), hat man nach 55 Jahren alle Varianten durch!
Tipp: Testen Sie abstruse Varianten! In den ersten zwei Zügen ist fast alles möglich.
Zur kleinen Anregung: Tatsächlich von Meistern versuchte Verrücktheiten!
- 1.e4 f5 2.exf5 Kf7 - das „Elefantengambit“ (Idee: 2.Dh5+ g6 3.fxg6+ Kg7!).
- 1.d4 Sc6 2.c4 Sf6 -„Black Knight Tango“.
- 1. Sc3 e6 2.g4 h5 - „Sibirisch Moos“.
- 1. Sc3 c5 2.Tb1 Sf6 - „Twybls Turm“.
- 1.b4 Sh6 2.Lb2 Tg8 - „Tübinger Variante“ gegen „Orang-utan“.
- 1.e4 g5 2.d4 h6 - der „Marder“. Oft vom englischen Meister Basman gespielt, der auch 1.h3!? e5 2.a3!? d5 zelebriert.
- Eine der ganz wenigen nicht zu empfehlenden Zugfolgen: 1.g4 e5 2.f3? Dh4 matt!

Elopunkte für Herzog, Polster & Co (1999)
Welche Ehre für die Schachwelt! Die UEFA hat Prof. Elos System zur Messung der Spielstärke entlehnt und führt eine Elo-Rangliste für Fußballnationalteams. Die bewährte Formel wurde um drei Faktoren ergänzt: Art des Matches (Bewerbs- oder Freundschaftsspiel), Heimvorteil und Tordifferenz. Die höchste je erzielte Elozahl:Brasilien (2092). Zurzeit führt aber Frank-reich. Das 3:0 im WM-Finale brachte 49 Elos.
Weltrangliste: Frankreich 1973; Brasilien 1964; Italien 1904; Niederlande 1892; Spanien 1879; Deutschland 1863. Österreich (1656) liegt am beachtlichen 40. Platz (von über 200 Teams).
Ginge es nach der Elowertung, hätte Herbert Prohaska gar nicht zurücktreten müssen: das 0:9 gegen Spanien kostete nur 15 Elo-Punkte! Österreichs größter Eloverlust traf übrigens einen schachspielenden Teamchef: Pepi Hickersberger verspielte 30 Elopunkte anno 1990 gegen die Faröer-Inseln.
Mit Otto Baric ist nun ein Schachstratege am Werk. Ein gutes Omen?


Der Mann, der zweimal aufgab (2001)
Über die Tragik des Aufgebens existieren viele Geschichten. Frisch ist die Erinnerung daran, wie Garri Kasparow gegen Deep Blue irrtümlich in glatter Remisstellung aufgab. KBei der russischen Meisterschaft ereignete sich nun etwas Unüberbietbares: ein Großmeister gab in einer einzigen Partie gleich zweimal auf - beide Male in Remisstellung!
Der bekannte Theoretiker Sweschnikow vermeinte im 62. Zug Matt zu werden oder einen Turm zu verlieren und gab auf. Als er doch noch eine Rettung bemerkte, nahm er die Aufgabe zurück (!); sie sei noch nicht vollendet gewesen. Der Turnierleiter entschied auf Fortsetzung der Partie. Im 122. Zug ergab sich ein technisches Remis (50 Züge ohne Schlagfall oder Bauernzug). Sweschnikow jedoch setzte eine ungewöhnliche Geste: er gab „zum zweiten Mal“ auf, diesmal endgültig, da er fand, zuvor nicht sportlich fair gehandelt zu haben.
Ein Rekord anderer Art wird dem Araber Ahmed Ben Yussuf nachgesagt: Aufgabe durch Zertrümmern des Bretts am Kopf des Gegners, siebenmal in einem Turnier!

 

Computer Fritz verglüht im All (2001)
Ein himmlisches Abenteuer steht dem bekannten Schachprogramm Fritz bevor. Aus 300 km Höhe wird es demnächst auf die Erde rasen und wahrscheinlich in der Atmosphäre verglühen.
Die unglaubliche Geschichte: Kosmonaut Sergej Avdejev, jener Mensch, der am längsten ununterbrochen im All war (379 Tage), bestellte sich als begeisterter Schachspieler etwas ganz Besonderes in die Raumstation MIR. Mit einer Sojus-Rakete wurde im Jahr 1999 neben Tonnen von technischer Ausrüstung ein Notebook samt einer Fritz-CD zur MIR transportiert. Avdejev installierte das Programm, das somit als erster echter Schachcomputer im Weltall gelten kann. Als die letzte Crew die Raumstation verließ, blieb Fritz an Bord und umkreist seitdem in der Umlaufbahn die Erde.
In wenigen Tagen soll MIR bekanntlich ins Meer stürzen oder zuvor verglühen - der arme Fritz muss das Schicksal des Raumschiffs teilen. Seine letzten Stunden verbringt Fritz damit, unermüdlich eine Partie nach der anderen gegen sich selbst zu spielen - auf höchstem Niveau.

 

Kasparow setzt Boris Becker matt (2001)
Tennis- gegen Schachchampion, live auf CNN, hieß es vor wenigen Tagen! Tennislegende Boris Becker stieg in München ins Internet ein, während sein Gegner, niemand Geringerer als Garri Kasparow, die Schaupartie aus dem CNN-Studio in New York bestritt.
„Schach und Tennis sind sehr ähnlich,“ erläuterte Becker, der vor Turnieren tatsächlich zur Konzentrationssteigerung Schach spielte. „Die Geometrie ist der gemeinsame Nenner. Auf Linien und Diagonalen öffnest du einen Winkel und machst Druck gegen eine Schwäche.“ Becker stürmte wie zu seiner Glanzzeit sofort ans Netz (2.Dh5), wurde aber kalt erwischt. „Es sah aus, als wären alle Bälle in meiner Hälfte!“
Ist Kasparow zur Revanche am Court bereit? „Ja, wenn Becker verspricht, nur auf meine Vorhand zu spielen!“

 

Rekorde, Rekorde (2002)
Ein monströser Weltrekord im Simultanschach wird aus Kuba gemeldet. In Havanna spielten 500 Meister gleichzeitig gegen 11.320 Personen simultan. Das entspricht sämtlichen Einwohnern von Eisenstadt, Brett an Brett nebeneinander. Damit wurde der zwei Jahre zuvor in Mexiko aufgestellte Rekord von 10.008 Brettern überboten. An einem Brett saß Staatschef Fidel Castro höchstpersönlich. Er gilt als großer Schachfan.
Eine gute Gelegenheit, sich an zwei andere Rekorde zu erinnern, die erst heuer aufgestellt wurden. Der Ukrainer Ruslan Ponomarjow wurde mit 18 Jahren jüngster Weltmeister der Geschichte, sein Landsmann Sergej Karjakin eroberte mit 12 als jüngster Spieler aller Zeiten den Großmeistertitel.
Sofern Sie nicht ein genial veranlagtes Kleinkind sind, werden Sie diese Rekorde wohl nicht mehr brechen. Falls Sie zu den Feiertagen frei haben, könnten Sie aber den Südafrikaner Andre van Zyl packen: Weltrekord im Non-Stop-Schach. Zu überbieten sind 115 Stunden lang am Brett.

 

Sadisten, Vatermörder, paranoide Abenteurer (2002)
Schachspieler - intelligent, kultiviert und geduldig. Vergessen Sie’s!
Eine britische Studie hat heuer die Wahrheit ans Licht gebracht: Das Spiel zieht Menschen an, die süchtig nach Nervenkitzel sind. Beim Gewinnen stellt sich ein so hoher Testosteron-Spiegel ein wie bei riskanten Sportarten, etwa beim Fallschirm-Springen oder Bungee-Jumpen. Schach ist Krieg“, stellten die Forscher fest. „Der Sieger fühlt Aufregung und Macht.“ In der Studie wurden Persönlichkeitstests von Schachspielern und Nichtschachspielern verglichen. Jene mit den höchsten Werten für Abenteuerlust waren die Schachspieler. „Weiters neigen Schachspieler zu unkonventionellem Denken und Paranoia“, so die Psychologen.
Es kommt noch dicker! Reuben Fine, Großmeister und Psychoanalytiker, nennt folgende Beweggründe: Aggression, Sadismus, Homosexualität, Narzissmus, Geltungsstreben. Und Ernest Jones, ein Schüler Sigmund Freuds, schrieb 1931: „Motiv der Spieler ist der ingrimmige Wunsch nach Vatermord.“
Ab morgen spielen wir Pfitschigogerln.


Schach auf Krankenschein? (2003)
Schach - vom Hausarzt verordnet? Schachspielen vermindert signifikant das Risiko, an Alzheimer oder Demenz zu erkranken. Dies ergab eine Studie in den USA, die seit 1980 läuft. Wer Schach spielt, senkt das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, um erstaunliche 74% gegenüber Nichtschachspielern, so die Mediziner. Ähnlich wirksam ist das Spielen eines Musikinstruments (69%). Weniger gut hilft Kreuzworträtsel-Lösen (38%). Noch besser als Schach wirkt nur Tanzen (76%).
Beispiele, dass Senioren im Spitzenschach mitmischen, gibt es zuhauf (Smyslow, Kortschnoi, Bronstein). In Österreich begegnet man vielen Hobbyspielern, die, weit jenseits der Achtzig, bei voller geistiger Frische am Brett sitzen. Bald also Schach auf Krankenschein? (Für Risiko und Nebenwirkungen lesen Sie Stefan Zweigs Schachnovelle oder fragen Bobby Fischer.)

Geschummelt: Computer am Klo! (2003)
Wer hat nicht schon davon geträumt? Während der Partie heimlich am Klo einen Computer zu konsultieren!
„Elektronisches Doping“ wurde nun erstmals Realität. Beim Lampertheimer Open wurde ein 51-jähriger Deutscher mit einem „Pocket Fritz“ ertappt. In den Runden zuvor war aufgefallen, dass der Spieler, ein Lehrer, für längere Zeit den Saal verließ, auch wenn er am Zug war. Der Turnierleiter schlich ihm daraufhin aufs WC nach und schildert: „Da ich keine Geräusche hörte, wagte ich einen Blick unter der Tür durch und sah, dass seine Füße parallel zur Toilette standen. Eine Stellung, in der kein Geschäft verrichtet werden kann.“ Der Hobbydetektiv stieg aufs Nachbar-Klo, sah über die Wand und ertappte den Spieler in flagranti. Der Schwindler leugnete, wurde aber vom Turnier ausgeschlossen. Ihn erwartet eine saftige Sperre.
Sie überlegen doch nicht etwa ...?! Pocket Fritz (aus dem Hause Chess Base) kostet knapp 50 Euro und erreicht beim Blitzen 2450 Elo. Wichtig: Am WC immer auf die Fußstellung achten!

 

Zwanzig Septillionen zur Unendlichkeit (2004)
Die Zeit der eisklaren Nächte lädt ein, über die Unendlichkeit des Schachspiels zu sinnieren. Gibt es wirklich mehr Züge als Atome im Universum? Wir wollten’s genau wissen:
Zwei nackte Könige kann man auf mühselige 3612 verschiedene Arten platzieren; stellt man je einen Bauern dazu, existieren sagenhafte 7.400.000 mögliche Positionen. Nimmt man alle Figuren, gibt es weit mehr Möglichkeiten als Sandkörner auf der Erde (10*21), mehr als Sterne im Universum (10*22). Die Anzahl aller möglichen Stellungen beim Schach wird auf 2x10*43 hochgerechnet, also ein Zweier mit 43 Nullen, sprich zwanzig Septillionen. Salopp geschätzt, entspricht dies ungefähr der Anzahl der gesamten Atome unserer Erde (10*49).
Weit größer ist daher die Zahl aller möglichen Spielverläufe. Die übersteigt tatsächlich die Anzahl der Atome im Universum (10*78). Streng genommen ist die Anzahl der Spielverläufe ohnehin unendlich: Denn Remis nach 50-Züge-Regel oder durch dreimalige Stellungswiederholung tritt nur nach Reklamation, nicht automatisch ein. Also im wahrsten Sinn des Wortes: Ewiges Schach ...

 

© für alle: Martin Stichlberger, erschienen im Kurier (zwischen 1996 und 2006)


oben Counter: Dia Projektoren